‚ZWEITE NATUR‘ BEI HEGEL UND MARX: VON GEWOHNHEIT, ‚UNBEWUSSTER‘ SITTLICHKEIT UND DER ‚NATURGESCHICHTE‘ DER GESELLSCHAFT
DOI:
https://doi.org/10.30611/2020n18id61189Palavras-chave:
zweite Natur, Sittlichkeit, bürgerliche Gesellschaft, politische Ökonomie, NaturgeschichteResumo
In den letzten Jahren wurde mehr und mehr erkannt, dass der Hegel’schen Philosophie in Bezug auf den Begriff der ‚zweiten Natur‘ eine geradezu ‚revolutionäre‘ Rolle zukommt, insofern sie die einschlägigen Diskurse – über ‚subjektive‘ Phänomene wie Gewohnheiten einerseits und ‚objektive‘ wie Gesellschaft, Recht und Sittlichkeit andererseits – zu vereinen und im Zuge dessen zugleich eine systematische Relevanz des Begriffs herauszuarbeiten scheint. Bei näherer Analyse der Hegel’schen Begriffsbildung erweist sich allerdings, dass sie ‚zweite Natur‘ als einen formellen Begriff erfasst, dessen je kontextspezifische Gehalte sich nicht einfach in einer übergreifenden Theorie ein und derselben ‚zweiten Natur‘ integrieren. Durch die hier skizzierte synoptische Analyse der verschiedenen Gegenstandsbereiche lässt sich indes rekonstruieren, was ‚zweite Natur‘ jeweils genau beinhaltet, welche Identitäten und Differenzen dabei zum Tragen kommen und wie Hegel bestimmte ‚subjektive‘ und ‚objektive‘ Aspekte – innerhalb des ‚objektiven Geists‘ – in der Tat zusammenschließt und darüber hinaus auch systematisch entwickelt. Was sich in Hegels Untersuchung der modernen, ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ lediglich andeutet, wird bei Marx zum zentralen Gegenstand der Theoriebildung: die ‚zweite Natur‘ moderner Ökonomien. Scheint Hegels Forschung zu Aspekten ‚zweiter Natur‘ daher bei Marx einerseits eine eminente Fortsetzung zu erfahren – so andererseits aber auch durch die undifferenzierte Rede von ‚Naturzusammenhängen‘ aufgegeben zu werden. Um also der weiteren begrifflichen Entwicklung zu folgen und diesem Widerspruch nachzugehen, wird die synoptische Analyse auf die Marx’sche Theorie ausgedehnt. Unter Berücksichtigung der Differenzen zur ‚Soziologie‘ Comte’scher Provenienz kann schließlich aufgezeigt werden, inwiefern Marx die bahnbrechende Hegel’sche Entwicklung der gesellschaftstheoretischen Aspekte ‚zweiter Natur‘ fortführt und wie er sie in ihren kritischen und historischen Dimensionen konzipiert. Durch eine systematische Rekonstruktion wird so insgesamt ein grundlegender Überblick über die originäre Begriffsentwicklung von Hegels Analyse der ‚zweiten Natur‘ der Gewohnheit bis zur Marx’schen These von der ‚Naturgeschichte‘ der Gesellschaft gegeben.
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Zur Judenfrage, 347-377
Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 378-391
3 Die Deutsche Ideologie, 9-530
8 Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 111-207
13 Zur Kritik der politischen Ökonomie, 3-160
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25 Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3
29 Brief von Marx an Lassalle vom 18. Februar 1858, 549-552
30 Brief von Marx an Engels vom 18. Juni 1862, 248-249
31 Brief von Marx an Engels vom 7. Juli 1866, 232-234
40 Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, 465-588
42 Ökonomische Manuskripte 1857/1858 (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie)
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